Kapitel 7
Das Salz der Südsee
Im Restaurant auf Deck 2 war mittags freie Platzwahl, doch als die Landfrauen und Jessica sahen, dass ‚ihr‘ Tisch 10 noch komplett frei war, steuerten sie, ohne sich abzustimmen, direkt auf diesen zu. Sie ließen sich auf ihre abendlichen Plätze fallen und Don Michael winkte ihnen erfreut zu. Rita war wieder schwer mit ihren Häkelsachen beladen. Als sie nachfragte, wo Tim sei, begann Jessica nochmals die Geschichte von heute Morgen zu erzählen. Sie ließ sogar den Teil mit dem hinterhergeworfenen Schuh nicht aus. Rita bog sich vor Lachen, wurde aber gleich wieder ernst, als sie Jessicas traurigen Blick sah. Diese schämte sich sehr für ihren Ausbruch. Bevor Rita gute Ratschläge erteilen konnte, nahte
Don Michael auch bereits mit der Mittagsspeisekarte. Still begannen die Frauen zunächst darin zu lesen.
„Schon wieder Bohnensuppe, man echt, die kann ich auch zu Hause essen“, stöhnte Rita genervt auf, „ewig wiederholt sich hier alles.“
„Oh, Tortellini alla panna“, freute sich Jessica, denn das war eins ihrer Lieblingsgerichte.
„Grasschnitzel“, las Ute vor, „was zum Himmel ist denn ein Grasschnitzel? Also die Übersetzungen in die deutsche Sprache sind mehr als schlecht.“
„Grasschnitzel gab es vor Kurzem mal, was essen wir denn nun?“, piepste Rosi.
Rita winkte dem Kellner und schrie: „Tortellini tutti, tutto bene?“
Don Michael lächelte entspannt und begann, die Getränkebestellungen aufzunehmen. Rita beugte sich über den Tisch und wollte gerade, wie Jessica vermutete, das Thema Tim wieder aufnehmen, als plötzlich Silvia, Jochen und Jan an den Tisch traten.
„Ist bei euch noch frei?“, fragte Silvia.
Alle bejahten. Jan jubelte, weil der Platz neben Jessica noch frei war und er nun dort sitzen durfte. Sollten Silvia und Jochen überrascht sein, dass Tim nicht da war, sie ließen es sich nicht anmerkten und fragten auch nicht nach ihm. Jessica hatte nachmittags an einem der letzten Seetage mal allein mit Silvia Kaffee getrunken und sie hatten sich gegenseitig ihr Herz ausgeschüttet. Deshalb war Jessica sehr im Bilde über die katastrophale Lage der Familie. Heute sah sie Silvia an, diese lächelte, was Jessica für ein gutes Zeichen hielt. Sie war von dieser Frau beeindruckt, die beschlossen hatte, wie eine Löwin um ihren Mann und ihre Ehe zu kämpfen. Dazu gehörte eine besondere Stärke. Rita lehnt sich wieder zurück. Sie würde Jessica später ihre guten Ratschläge in puncto
Männer erteilen. Jessica wandte sich Jan zu, als sie sah, dass er sein geliebtes Kuscheltier gar nicht bei sich hatte: „Hat Cruisy denn gar einen Hunger?“
„Nee“, brabbelte der Kleine, „der sitzt auf der Kabine und beobachtet das Meer. Gleich kommen nämlich echte Menschen an Bord, die wohnen da.“
Er deutete auf die Insel, die nun immer näher kam. Sie war sehr bergig und steinig, aber sie leuchtete in der Mittagssonne in einem satten Dunkelgrün. Jessica lächelte.
„48 Menschen leben da, alles Piraten“, erklärte Jan mit wichtiger Stimme, „aber nur 24 kommen, der Rest ist sicher in der Schule.“
„Woher weißt du das denn?“, fragte Rosi kauend nach.
„Tante Herlinde hat mir das heute Morgen erklärt“, trumpfte Jan auf.
„Dass die mal was weiß“, konterte Rita.
Alle am Tisch grinsten, Jan packte weiter aus: „Das sind alles die Maurer von der Bounty.“
„Meuterer, heißt es, Jan und es sind heute keine Piraten mehr, sondern die Nachfahren“, verbesserte Silvia und schlug die Speisekarte auf, die Don Michael ihr reichte. Ihr Sohn sah sie mit großen Augen an, dann meinte er: „Was ist denn ‚meutern‘?“
Sein Vater strich ihm liebevoll über den Kopf und erklärte: „Das, was du machst, wenn du abends ins Bett sollst und nicht willst.“
Jan nickte, insgeheim freute er sich, dass er so viel Talent hatte wie diese Leute, die ja bestimmt erwachsen waren.
„Wenn ich groß bin, werde ich auch Pirat, denn meutern kann ich ja schon.“
Damit erheiterte er nicht nur Tisch 10, sondern auch alle deutschsprachigen Gäste, die in der Nähe saßen und ihn hören konnten.
„Pirates, pirates“, rief Don Michael aus und deutete mit seinem Zeigefinger auf das Meer.
Alle sprangen auf und sahen hinaus. Ein kleines Boot, welches neben ihrem großen Kreuzfahrtschiff wie eine Nussschale wirkte, fuhr direkt auf die Kosta Onda zu. Sie erkannten Menschen, die dem Schiff fröhlich zuwinkten. Alle an Tisch 10 winkten aus Leibeskräften zurück, und Rosi begann vor Rührung zu weinen.
„Das ist so nett, dass die uns besuchen kommen“, meinte sie gerührt.
„So, wenn die Piraten winken, hast du also keine Angst mehr vor denen“, kommentierte Rita kopfschüttelnd.
„Sind das nun wirklich Piraten oder nicht?“, quengelte Jan.
Die Antwort darauf bekamen die Landfrauen und Jessica nicht mehr mit, denn sie hatten eilig den Speisesaal verlassen, um mit dem Lift nach Deck 9 hinaufzufahren, schließlich mussten die Besucher doch gebührend empfangen werden! Zurück blieben vier halbvolle Teller Tortellini alla panna, die Don Michael natürlich sofort abräumte.
Bruno war bereits auf Deck 9 und beobachtete die Ankunft vom Pooldeck aus mit seinem Fernglas. Er hatte schon die zwanzig Verkaufstische im Atrium inspiziert, die sich gleich füllen würden. Er verstand den ganzen Aufstand nicht. Da kamen so ein paar Halbwilde, die auf einer kleinen Insel fern der Zivilisation wohnten, und das ganze Schiff stand kopf. ‚Fern der Zivilisation‘ waren seine neuen Lieblingsworte, denn es klang so schön exotisch. Dass er diese bei Herlinde das erste Mal gehört hatte, verdrängte er tapfer, aber bestimmt. Kopfschüttelnd registrierte er, dass das ganze Deck einschließlich der Kellner dem kleinen Boot winkte.
„Na, winkt mal schön“, knurrte er, „diese Piratennachfahren wollen euer Geld und vielleicht ein warmes Mahl, sonst nix.“
Niemand antwortete ihm. So schlenderte er zu der fast verwaisten Poolbar hinüber. Er sah Marios Tablett mit gefüllten Weißweingläsern dort stehen und nahm sich gleich zwei. Die Getränke zum Mittagessen waren schließlich inklusive. Dann sah er Tim ein paar Meter entfernt an der Bar sitzen. Er schlenderte zu ihm hinüber und deutete mit dem Kopf auf die Gläser: „Nun muss man sich schon selbst um seinen Wein kümmern, nur weil da so ein paar Halbwilde im Anmarsch sind.“
Großzügig bot er Tim ein Glas an, dieser griff zu. Bruno ging sofort noch mal zu dem Tablett und holte zwei weitere Gläser. Er nahm neben Tim auf dem Nachbarhocker Platz.
„Wo ist denn Jessica?“, fragte er.
„Weiß ich nicht“, gab Tim ehrlich zu.
Nachdem Bruno darauf nicht antwortete, meinte er: „Es
gab eine kleine Auseinandersetzung heute Morgen, seitdem habe ich sie nicht mehr gesehen, obwohl ich das ganze Schiff abgesucht habe.“
„Na ja“, meinte Bruno überraschend freundlich, „die ganze Zeit so dicht aufeinander, da knallt es eben auch mal. Wenn ich überlege, wie oft ich mich früher mit Inge gestritten habe, heute fehlt sie mir.“
Er seufzte leise und sah plötzlich sehr traurig aus.
„Wer ist Inge?“, fragte Tim und nahm einen kräftigen Schluck aus seinem Weinglas.
„Inge ist meine verstorbene Frau. Es ist schon fünf Jahre her, Krebs“, antwortete Bruno knapp.
„Das wusste ich gar nicht“, gab Tim betroffen zu.
„Ja, denkst du, ich war immer alleine? Nein, wir waren dreißig Jahre miteinander sehr glücklich verheiratet, na meistens jedenfalls. Du hast wohl gedacht, ich hätte nie eine Frau bekommen, weil ich so eklig sein kann, was?“, lachte
Bruno plötzlich und haute Tim kameradschaftlich auf die Schulter. Dieser grinste, er fühlte sich ertappt.
„Jessica ist eine tolle Frau, die musst du nur ab und an mal bremsen. Vor allem, wenn sie mit diesem chaotischen Damentrio unterwegs ist.“
Tim blickte Bruno überrascht an, bisher hatte er nicht gedacht, dass Bruno Jessica toll fand.
„Wobei“, meinte Bruno und leerte Weinglas Nummer 1 in einem Zug, „langsam gewöhne ich mich an die, sie sind ja auch sehr unterhaltsam. Nur schade, dass keine neulich auf den Osterinseln vom Pferd gefallen ist, das hätte ein tolles Erinnerungsfoto gegeben.“
Tim überraschte Brunos Offenheit, er war ihm in diesem Moment fast sympathisch, wenn er natürlich auch mit seinem letzten Satz in die Ekelrolle zurückfiel. Bruno reichte Tim das zweite Weinglas und zwinkerte ihm zu, da verstand er, dass dieses Miesepetergehabe eben eine Rolle war, in die er hineinschlüpfte, um sich vor der Gesellschaft zu schützen. Bruno Bahn schien nach dem Tod seiner Frau ein Einzelgänger geworden zu sein. Tim war sich sicher, dass er im Grunde seines Herzens keiner der Landfrauen einen Sturz vom Pferd gewünscht hatte.
„Ja, du hast recht, Jessi muss man bremsen, allerdings ist ihre Lebhaftigkeit damals genau der Grund gewesen, warum ich mich in sie verliebt habe.“
Eine Weile schwiegen sie, dann hörten sie zunehmendes Stimmengewirr aus dem Atrium.
„Komm“, meinte Bruno, „wir sehen uns das drinnen doch mal an, sonst können wir heute Abend ja nicht mitreden.“
Tim folgte ihm, er war sich sicher, dort drinnen irgendwo Jessica zu treffen, dieses Ereignis würde sie sich mit Sicherheit nicht entgehen lassen.
Als sich die Tür des Fahrstuhls öffnete, verschlug es den Landfrauen und Jessica für einen Moment die Sprache. Sechs Männer, allesamt im Piraten-Look, standen dort drin und grinsten die Frauen fröhlich an.